Die veränderte Wertigkeit von
Musik im digitalen Zeitalter.
Oder: Pop ist tot!
Mai 2017
Es ist warm. Ein verlängertes Wochenende hat viele Touristen in die Stadt gespült, die nun die Elbe
entlang laufen um am Ende die Elbphilharmonie zu bewundern. Wir, die Band MS Friedrich, stehen
den Leuten auf ihrer Route im weg und beschallen sie mit Pop-Musik. Mit zwei Akustik-Gitarren und
einem Mikrophone bewaffnet covern wir ohne Rücksicht auf Verluste die Klassiker der Pop-
Geschichte. Wir sind nicht gut, aber wirkungsvoll. Die Kasse klingelt. Einige Anfragen für kleinere
Auftritte kommen rein.
Einige hundert Meter weiter steht eine Jazz-Combo. Hier das komplette Gegenteil. Sie sind gut, aber
keiner interessiert sich für sie. Sie versuchen alles. Mal leidenschaftlich und mal gefühlvoll, mal wild
und mal zart, aber immer virtuos spielen sie ihre Instrumente rauf und runter. Doch es will einfach
nicht funktionieren. Die Leute bleiben nicht stehen.
Pop-Musik ist tot!
Musik und ihre Bedeutung hat sich in den Jahrhunderten immer wieder stark verändert. Technische,
wirtschaftliche, gesellschaftliche oder ästhetische Punkte verschoben sich und die damit
verbundenen Punkte gleich mit. Es war schon immer ein dynamisches System, eine Struktur, die sich
immer wieder neu formte. Der letzte große Anstoß, der die einzelnen Punkte und Bindeglieder dieser
Struktur kräftig durcheinander gewirbelt hat, war vor circa 20 Jahren der technische digitale
Fortschritt. Es wurde viel diskutiert und noch mehr gejammert, was Napster, iTunes YouTube und Co.
nicht alles kaputt gemacht hätten. Die heile Welt der Pop-Musik war kaputt gegangen, der Pop ist tot.
Kurzer Rückblick: Musikindustrie in Sturzflug
Ende der 1990er Jahre erlebte die Musikindustrie ihren bisher absoluten Höhepunkt. Nach einer
langen Zeit der Expansion wurden so viel Tonträger wie nie zuvor verkauft und die Musikindustrie
machte damit so viel Umsatz wie nie zuvor. Vor allem die Einführung der CD und die Entwicklung des
Musikfernsehens versetzen die Musikindustrie seit Ende der 1980er in rauschähnliche Zustände.
Die Umsätze von Tonträgern auf dem Markt der USA stiegen von fast 4 Milliarden US-Dollar im
Jahre 1980, auf über 14 Milliarden US-Dollar im Jahre 1999 (vgl. Peter Tschmuck: Kreativität und
Innovation in der Musikindustrie, 2003).
Das rasante Wachstum des Musikmarktes entzündete eine Welle der Fusions- und
Akquisitionsbewegung. Viele branchenfremde Investoren wurden angelockt. Die Anzahl von
Musikkonzerne wurde drastisch verringert und der Markt wurde fast ausschließlich von Major-
Labels bestimmt. Die Musikindustrie war mit sich selbst beschäftigt, feierte sich und die großen
Mega-Star der 80er und 90 er Jahre und sahen dabei vor lauter Champagnerflaschen das Unheil aus
Einsen und Nullen nicht auf sich zukommen - den mit der Jahrtausendwende hereinbrechenden
digitalen Umbruch. Immer schnellere Internetverbindungen, die endgültige Durchsetzung des mp3-
Formats und die ersten Peer-to-Peer-Netzwerke (P2P) wie Napster, begannen die Musikindustrie
seit Ende der 1990er Jahre kräftig durchzuwirbeln. Umsatzeinbrüche von über 40 Prozent hat die
Musikindustrie zwischen 2001 und 2010 zu verzeichnen. Dieses Tal der Tränen scheint nun
überwunden und der Musikindustrie gelingt es nun durch Streaming-Dienste wir Spotify oder
Deezer sich zu erholen und wieder zu wachsen. Die Menschen geben wieder Geld für Musik aus! Die
Rettung!
Die Bedeutung der Musik war nie in Gefahr
Die Rettung scheint dies allerdings vor allem aus wirtschaftlicher Perspektive zu sein. Das Ende der
Musik, welches einige Vertreter der Musikindustrie bereits kommen sahen, blieb in der Regel ein
Jammerbild eben dieser Industrie. Musik als Konsum- und Wirtschaftsgut würde sich zwar ändern, so
deren Kritiker*Innen, aber nicht die Bedeutung von Musik selbst. Sie verwiesen auf Statistiken zu
Nutzungsdauer und Nutzungshäufigkeit von Musikmedien. Musik war wichtig, Musik ist wichtig und
Musik wird immer wichtig bleiben, so deren Fazit. Niemals zuvor hörten die Menschen in Europa und
Nordamerika so viel und so häufig Musik wie zurzeit der Musikindustriekrise.
Die Forscher*Innen überschlugen sich mit Untersuchungen und spektakulären Ergebnissen zum
neuen Musikkonsum und der Musiknutzung. Plattformen wie Myspace, Lastfm oder Grooveshark
werden alles ändern, werden die neuen Major-Labels der Musikindustrie, so eine häufige Aussage.
Wenige Jahre später hatten sie allerdings schon keine Relevanz mehr und viele Blicken nur noch mit
nostalgischen Augen auf sie zurück. Denn schon längst wurden sie durch Soundcloud, Spotify oder
Vevo ausgetauscht, den neuen Plattformen, die jetzt nur wirklich alles ändern, die nun wirklichen
neuen Major-Labels.
Natürlich ist es leicht, sich ein wenig über die dramatischen Vision einiger selbsternannter Musik-
und Medienexperten lustig zu machen. Eine neue digitale Plattform taucht auf und die Welt ist voller
Egos die spektakuläre Veränderungen verkünden. Doch solche Veränderungen kommen nie so
schnell wie ihre Propheten zunächst meinen – dafür aber gelegentlich deutlich tiefgreifender!
Digitale Medien haben die Wertigkeit von Musik verändert
Digitale Medien haben Musik zu einem allgemein verfügbaren Gut gemacht, welches losgelöst von
Raum und Zeit konsumiert werden kann. Die Playlisten des eigenen Lebens kann man inzwischen mit
seinem Smartphone überall und jederzeit erstellen, abändern und natürlich auch hören. Den
Lieblingssong kann man mit seinen Freunden teilen, kommentieren oder in die eigene Onlinepräsenz
einbinden. Für die Musik und ihre Wertigkeit bringt das zwei elementare Veränderungen mit sich:
ERSTENS. Das Angebot an Songs übersteigt bei weitem alle Möglichkeiten des Konsums. Die
Auswahl an Lieder ist inzwischen kaum mehr zu überblicken. Es gibt bereits hunderte neuer Lieder,
bevor man überhaupt dazu gekommen ist, in den ganzen vorigen Lieder reinzuhören. In einfachster
betriebswirtschaftlicher Sprache würde man wahrscheinlich sagen: Das Angebot übersteigt jede
mögliche Nachfrage und ist damit völlig wertlos. Wertvoll ist nur noch der Zugang zur Musik, aber
nicht mehr die Musik selbst. Aber auch hier könnte man natürlich die bereits angesprochene Kritik,
dass die Bedeutung von Musik in Anbetracht der Nutzungsdauer und -häufigkeit immer noch sehr
hoch ist, einbringen. Doch diesmal tut sich eine Veränderung auf, die diese Argumentation durchaus
ins Schwimmen bringt.
ZWEITENS. Der soziale Aspekt von Musik hat sich verändert. Musik, insbesondere natürlich die Pop-
Musik, war schon immer Teil der Sozialisation, Distinktion und des allgemein sozialen Lebens. Doch
mit den digitalen Medien und den ihr verbundenen Social Media-Kanälen veränderte sich der
Umgang und die soziale Funktion von Musik: Ein neuer Song muss teilbar und likebar sein. Er muss
schnell emotionalisieren ohne dabei die Lebens- und Kommunikationsflüsse zu stören. Die
Geschwindigkeit mit der Musik verbreitet, besprochen und weiterempfohlen wird hat zugenommen.
Man wartet nicht darauf seinen Freunden seine jüngst erstandene Platte vorzuspielen, sondern
schickt direkt ein Link, ein Like oder ein Kommentar. Dies hat direkten Einfluss auf die Musik, ihren
Sound und ihre Komposition. Wenn Musik über digitale Medien und insbesondere über die sozialen
Kanäle verbreitet werden soll, dann darf sie nicht besonders widerständig oder kantig sein. Musik als
medialer Inhalt findet dann seine schnellste Verbreitung, wenn sie glatt und eingängig ist. Größere
Auseinandersetzung mit einem einzelnen Song, Künstler oder deren Produktionen sind dabei nicht
mehr möglich oder erwünscht. Die schnelle Emotionalisierung des Lebens rückt viel mehr in den
Vordergrund und verdrängt dabei frühere Aspekte der Distinktion und Sozialisation.
Der ehrlichste Ort für Musik
Zurück auf der Straße wird nach zwei gelungenen Sets noch ein Bier getrunken und der sich noch
immer mühende Jazz-Combo zugehört. Die Straße ist ein ehrlicher, sehr direkter Ort für die Musik.
Man hat nur wenig Zeit jemanden zu erreichen, jemanden zu berühren, zum Zuhören zu bewegen. Ist
man gut, ist man erfolgreich. Die Jazz-Combo ist zwar gut, aber zu komplex. Was für eine Scheiße! Zu
komplex für die schnelle Emotionalisierung auf dem Weg zur Elbphilharmonie! Aktuelle Pop-Musik
ist nur noch wie der letzte Schluck Bier in meiner Flasche – irgendwie nicht mehr so geil. Blödes Bild,
aber doch der bleibende bittere Geschmack im Mund.